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Sucht - Wie viel ist "zu viel"?

Aktualisiert: 18. Dez. 2021

Die Behandlung von Suchterkrankungen ist einer meiner favorisierten Behandlungsschwerpunkte.


Diesen Blogpost möchte ich einer Frage widmen, die mir sowohl von Betroffenen, Angehörigen als auch Außenstehenden immer wieder gestellt wurde: "Wie viel ist zu viel?". Hinter der Frage stecken je nach Absender verschiedene Motive. Ein Betroffener möchte meistens herausfinden, ob bzw. wie stark er bereits abhängig ist. Angehörige sind häufig bemüht, nichts zu übersehen bzw. wollen die Menge des Konsums ihres Partners/ihrer Partnerin oder ihres Kindes einordnen können.


Die Frage des "zu viel" kann aus verschiedenen Blickwinkeln beantwortet werden. Fangen wir recht eindeutig mit der Diagnosenstellung nach dem ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten nach der Weltgesundheitsorganisation) an. Das ICD-10 ziehen Psychotherapeuten heran, um klinisch relevante Diagnosen zu stellen und damit eine Behandlungsgrundlage zu haben. Die Diagnose einer Abhängigkeitserkrankung wird laut Klassifikationssystem dann erfüllt, wenn mindestens 3 der folgenden 6 Kriterien innerhalb des zurückliegenden Jahres erfüllt werden:

  • starker Wunsch/Zwang nach Konsum der Substanz

  • verminderte Kontrollfähigkeit bzgl. Beginn, Menge und/oder Ende des Konsums

  • Auftreten körperlicher Entzugssymptome

  • Auftreten einer Toleranzentwicklung bzw. Dosissteigerung

  • Vernachlässigung anderer Interessen

  • Fortsetzung des Konsums trotz Folgeschäden

Diese Liste kann vor allem für Betroffene hilfreich sein, um selbst einschätzen zu können, ob bereits eine Abhängigkeit besteht. Dies ist in meinen Augen der erste und gleichzeitig ein sehr schwieriger Schritt für einen Veränderungsprozess. Eine Therapie kann dabei helfen, diesen Schritt - welcher häufig mit Scham, Unsicherheit und Verleugnung einhergeht - gemeinsam zu gehen.


Zurück zur Beantwortung der Frage des "zu viel". In meinen Augen ist der Konsum "zu viel", wenn die Einnahme der Substanzen, eine Funktion im Leben des Betroffenen eingenommen hat. Mit Funktion meine ich das Herbeiführen eines (oder verschiedener) emotionaler Zustände, welche nicht (mehr) anderweitig erreicht werden können. Beispielsweise, wenn sich jemand nur noch durch das Rauchen eines Joints entspannen kann. Oder wenn jemand sein "Feierabendgetränk" benötigt, um abzuschalten. Oder wenn jemand den Konsum von Amphetaminen nutzt, um produktiv und gut gelaunt zu sein. Letztendlich "dient" also eine Sucht dazu, bestimmte Bedürfnisse zu befriedigen.


Aus einem Genussmittel ist häufig im Verlauf mehrerer Jahre ein Suchtmittel geworden. Sehr vereinfacht ausgedrückt hat das Gehirn gelernt, dass es gewisse emotionale Zustände sehr schnell und einfach, durch den Konsum, erreichen kann. Und darauf möchte es immer wieder zurückgreifen. Es entsteht ein sogenanntes „Suchtgedächtnis“, mit speziellen neuronalen Vernetzungen. Die schlechte Nachricht ist, dass sich diese Vernetzungen nicht einfach so wieder „löschen“ lassen und man daher nicht - wie oft angenommen - darauf hinarbeiten sollte, dass nie wieder Suchtdruck (das sogenannte craving) auftritt. Meiner Ansicht nach geht es viel mehr darum, zu lernen, wie man mit diesem Suchtdruck umgehen kann. Sich bewusst zu werden, wann er auftritt und welche Methoden in welchen Situationen helfen können. Die gute Nachricht ist, dass unser Gehirn durch seine neuronale Plastizität mittels Training veränderbar ist. Genauso, wie abhängige Verhaltensweisen erlernt werden, lässt sich auch Verhalten erlernen, dass unsere Bedürfnisse befriedigt, ohne Substanzen einzunehmen.

Ja, zugegebenermaßen geschieht die Bedürfnisbefriedigung ohne Suchtmittel weniger schnell und weniger intensiv. Sie ist allerdings auch mit deutlich geringeren Kosten verbunden. Und damit meine ich nicht (nur) die finanziellen. Sondern vor allem auch die Kosten für die körperliche und psychische Gesundheit sowie das soziale Leben.


Wie viel "zu viel" ist, entscheidet letztendlich natürlich jeder Mensch für sich. Stellt sich ein Leidensdruck ein und weiten sich die beschriebenen "Kosten" des Konsums auf mehrere Lebensbereiche aus, kann das zur Entwicklung einer hilfreichen Therapiemotivation beitragen.

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